Europa war im Wandel begriffen. Der Wiener Kongreß, der Deutsche Bund und der europäische Friede waren gefährdet. Ab 1830 kam es in Europa wiederholt und mit einer sich steigernden Heftigkeit zu politischen Unruhen. Gentz versuchte Metternich noch auf die neue „liberale“ Schiene umzusetzen, starb aber unverrichteter Dinge.
Metternich 1830 über Gentz: »Über die Lebenskräfte unserer Monarchie sieht er schwarz und eigentlich keine Rettung, als den Tod des Kaisers, insofern bei der Schwäche des Kronprinzen dadurch die Möglichkeit einer Regierung brauchbarer Minister eröffnet ist. Hält die Revolution für nicht mehr abzuwenden und bewundert die Talente der Liberalen in Frankreich, deren Grundsätze er verwirft [ 1].« Gentz starb 1832.
Noch am 9. Juni 1840 versammelte Fürst Metternich die Gesandten in Wien zu einem Fest sich selbst und den unzeitgemäßen Deutschen Bund zu feiern.
Die große Politik fand längst ohne ihn statt.
Mit der Gründung des Zollvereins ebnete einst der preußische König Friedrich Wilhelm III. dem deutschen Nationalstaat seinen Weg. Zwei Tage bevor Österreich den verstaubten Deutschen Bund feierte, starb der König von Preußen. Seine letzte Botschaft an Österreich bildete die Einweihung eines - anlässlich des 100-jährigen Thronjubiläums Friedrich des Großen - errichteten Denkmals. Friedrich der Große hatte im Siebenjährigen Krieg der Großmacht Österreich die Provinz Schlesien entrissen.
Am Todestag Friedrich Wilhelms III., dem 7. Juni 1840, versammelte sich eine große Menschenmenge vor dem königlichen Palast. Nach dem Dahinscheiden des Königs wurden die Tore des Palastes geöffnet, um der Anteil nehmenden Bevölkerung die Gelegenheit zum Abschied zu geben. Der sich steigernde Andrang wuchs bis zu einem Ausmaße an, das nach wenigen Stunden das Schließen der Tore erforderlich werden ließ, um ein sich abzeichnendes Chaos zu verhüten.
Die Totenfeier für den dahingeschiedenen König fand am 11. Juni im Berliner Dom in der so verfügten Schlichtheit statt. Die Feier endete am Abend. Während der anschließenden Überführung der Leiche zum Charlottenburger Mausoleum blieben die Gaslaternen „Unter den Linden“ gelöscht. Mondlicht und Fackeln begleiteten den verstorbenen König auf seinem letzten Weg. Als der Trauerzug das Tor des Charlottenburger Schlosses erreicht hatte, stimmte ein Männerchor die Choräle „Jesu meine Zuversicht“ und „Auferstehen, ja auferstehen wirst du“ an. Friedrich Wilhelm III. wurde an der Seite seiner zu früh verstorbenen Gattin Louise auf eigenen Wunsch hin, im engsten Familienkreis beigesetzt [ 2].
Friedrich Wilhelm III. verschwand. Sein Werk nicht!
In Frankreich war das umgekehrt. Die kaiserliche Asche tauchte auf, weil von der Grande Nation nicht mehr viel übrig geblieben war und man mit Hilfe des Ägypters Mehemed Ali Pascha die Dominanz im östlichen Mittelmeer zu erringen hoffte.
Die sterblichen Überreste Napoleon I. wurden von St. Helena nach Paris befördert. Am 15. Dezember 1840 wird als Schlußpunkt eines triumphalen Leichenzuges der kaiserlichen Asche dieselbige vom katholischen Klerus (dass Bonaparte in einem dem Papst aufgezwungenen Konkordat die katholische Kirche durch die „organischen Artikel“ seiner Willkür unterwarf [ 3] war vergeben) auf dem Ehrenhof der Invalidenkaserne bestattet [ 4] [ 5].
Kaiser und Kriche sind wieder versöhnt. Ein verklärender Blick in die Vergangenheit läßt der Franzosen Kriegerherz höher schlagen, im Mittelmeer aber auch am Rhein, und der soll Frankreichs Ostgrenze sein [ 6] [ 7].
Die Zeit war gut gewählt, hatte der im Regieren unerfahrene Preußenkönig Friedrich Wilhelm IV. die Gräuel des Krieges während der Befreiungskriege selbst erfahren und zu verabscheuen gelernt. Ihm dürstete nicht nach Menschenblut. Seine Strategie: Bedingte Neutralität, Annäherung an England, Aussöhnung mit der katholischen Kirche und Weiterbau des Kölner Domes (auch als Symbol des deutschen Anspruchs auf das von den Franzosen begehrte Köln).
Was den lebenden preußischen König und den toten französischen Kaiser jedoch einte, war die Haltung die sie gegenüber Ihren Untertanen einnahmen.
Lord Rosebery über Napoleon »Allein ein König des Pöbels zu sein, widerstand ihm; sein Inneres empörte sich, wie er erklärte, gegen einen solchen Gedanken [ 8].«
Ebenda der Kaiser selbst: »Ich ziehe das Bedauern Frankreichs seiner Krone vor.«
Mit Friedrich Wilhelm IV. sollte Preußen einen König erhalten der es wagen konnte, die Beziehung zwischen Macht und Religion neu zu formulieren, wobei Ihm die gegebenen internationalen wie nationalen Bedingungen die ihnen eigenen Grenzen setzten.
Lange hatte der Kronprinz auf die Thronbesteigung warten müssen. Er nutzte diese Zeit sich mit Menschen zu umgeben, die seine Idealisierung eines mittelalterlichen Königreiches, seine romantischen Schwärmereien mit Nahrung versorgten. Unter ihnen befand sich der einer ungarischen Familie entstammende Josef Maria von Radowitz. Fürst Bismarck bezeichnete ihn als »den geschickten Garderobier der mittelalterlichen Phantasien des Königs [ 9].«
Friedrich Wilhelm IV. sah sich als König von Gottes Gnaden, vereint mit seinen Untertanen im Gebet zu Gott. Nach den Vorstellungen des neue Königs hätten es die Kirchengemeinden sein sollen, die durch Verkündigung und Nächstenliebe, durch soziale Dienste um die Gesellschaft, das Rückgrat seines Staates gebildet haben würden. Dem tätigen Träumer, als der er sich erwies, mit scharfem Verstand gesegnet, erfaßte klaren Blickes die irdischen Erfordernisse zur Verwirklichung seines Sommernachtstraumes: Er brauchte Geld.
Die preußische Wirtschaft war erfolgreich, die englische erfolgreicher. Um der britischen Konkurrenz gegenüber gewappnet zu sein, hätte es einer Ausdehnung der Geldmenge bedurft, was hieß: sich stärker zu verschulden.
Der Fabrikant Friedrich Engels beschrieb die Lage Preußens 1847 wie folgt:
»Die Bourgeoisie geriet mehr und mehr in eine schwierige Lage. Sie hatte ihre Manufaktur- und Bergbauunternehmungen ebenso wie ihre Schiffahrt in erheblichem Maße ausgedehnt; sie war der Hauptlieferant für den gesamten Markt des Zollvereins; ihr Wohlstand und ihre zahlenmäßige Stärke hatten sich sehr vergrößert.
Aber während der letzten zehn bis fünfzehn Jahre hat der enorme Fortschritt der englischen Manufaktur- und Bergbauunternehmungen sie mit einer gefährlichen Konkurrenz bedroht. Jede Überfüllung des englischen Marktes warf große Mengen englischer Waren in das Gebiet des Zollvereins, wo sie zu Preisen verkauft wurden, die die Deutschen mehr ruinierten als die Engländer, … Ihren Schiffen war fast völlig der Zugang zu den Häfen der anderen Staaten verwehrt, während Schiffe aller Flaggen die preußischen Häfen unter gleichen Bedingungen wie die preußischen Schiffe anliefen. So entstanden, …. Schwierigkeiten für profitable Kapitalanlagen. Das Geschäft schien unter ständigem Druck zu stehen; die Fabriken, die Maschinerie, der Warenbestand wurden langsam, aber stetig entwertet; und nur für kurze Zeit wurde diese allgemeine Flaute durch die Eisenbahnspekulationen unterbrochen, ….
Da diese Spekulationen den Wert des flüssigen Geldes in die Höhe trieben, steigerten sie die Entwertung des Warenvorrats, während sie selbst … im größten Teil des Landes nicht sehr gewinnbringend waren. …. Wie gewöhnlich nahmen diese Spekulationen sehr bald fieberhaften Charakter an und endeten in einer Krise, die seit etwa zwölf Monaten auf den preußischen Geldmärkten lastet. So befand sich die Bourgeoisie zu Anfang dieses Jahres in einer sehr unangenehmen Lage: die Geldmärkte standen unter dem Druck eines außergewöhnlichen Bargeldmangels; die Industriegebiete verlangen mehr denn je nach den Schutzzöllen, die ihnen die Regierung verweigert hat; die Küstenstädte fordern Navigationsgesetze, das einzige Mittel zur Erleichterung ihrer Lage; und darüber hinaus – eine Preissteigerung auf den Getreidemärkten, die das Land an den Rand einer Hungersnot brachte [10].«
Das Geld war knapp und der König plante die Aufnahme von Krediten. Sein ebenso klug wie vorausschauender Vater König Friedrich Wilhelm III. hatte am 22.05.1815 Preußen eine Verfassung versprochen. Seinem Sohn, dem damaligen Kronprinzen hatte er zu dieser Zeit mit der Überarbeitung des Hardenberg’schen Entwurfes betraut und – indem Friedrich Wilhelm III. Verfassung und Kreditaufnahme aneinander koppelte – über seinen Tod hinaus für die Erfüllung seines Versprechens gesorgt, dessen Einlösung er auf Österreichs Betreiben hin zurückstellen mußte.
Auf dem in Frankfurt veranstalteten Bundestag Mitte 1816 beförderten Preußens Bemühungen, den ihm angemessenen Platz im Deutschen Bund zu finden, die im Verborgenen herangereiften Sumpfblüten des Metternich’schen Kalküls ans Tageslicht: Der württembergische Minister Wangenheim schreibt an seinen König und läßt die Welt daran teilhaben. Preußen wäre ein durch Geheimbünde völlig zerrütteter Staat. Den Stuttgarter Monarchen ködert der „liberale“ Wangenheim mit der Aussicht:
wenn in Preußen eine Revolution ausbräche und zugleich im Süden ein deutscher Staat mit einer freien Verfassung bestände, so wäre ein Umschwung der Dinge möglich, wie ihn die kühnste Phantasie kaum ersinnen könnte!
Die Geheimbünde versammelten damals jene Menschen, die einen auf humanistischen Idealen aufbauenden preußischen Staat, als Wegbereiter des deutschen Nationalstaates betrachteten. Die anti-preußische Stimmung kulminierte in dem Satz Plessens [11]:
»der Bund kann auch ohne Preußen bestehen.«
Im Juli 1819 trifft Friedrich Wilhelm III. mit Metternich in Teplitz zusammen und erfährt, daß Österreich Preußen jede Unterstützung zur Niederschlagung revolutionärer Aufstände versage, wenn es sich eine Verfassung gäbe. Hardenberg, der mit der Ausarbeitung eines Verfassungsentwurfs betraut war, sei senil und zu entlassen. Der König von Preußen solle sich auf die österreichischen Minister verlassen. Das tat er aber dann doch nicht.
Aus innenpolitischen Erwägungen, die sowohl das Österreich freundlich gesinnte Lager, wie auch die Unwägbarkeiten revolutionärer Umtriebe berücksichtigen mußte, wie aus außenpolitischen Erwägungen nicht wie 1806 ohne Bündnispartner dazustehen beteiligte sich Preußen an der Umsetzung der Karlsbader Beschlüsse. Die Hardenberg’schen Vorschläge zur Verfassung wanderten durch die Hände des Kronprinzen in die Schublade. Friedrich Wilhelm III. verschob das Projekt in der Hoffnung künftig die Voraussetzungen schaffen zu können die eine Verwirklichung seines Verfassungsversprechens erlaubte. Oberste Priorität hatte für den Nachfahren des Soldatenkönigs die Sanierung der Staatsfinanzen [12].
Die Verknüpfung von saniertem Haushalt und verfassungsmäßiger Ständeversammlung war in der von Hardenberg verfaßten und am 17. Januar 1820 vom König erlassenen Verordnung wegen der künftigen Behandlung des gesammten Staatsschuldenwesens festgeschrieben worden:
Thun kund und erklären hiermit: ...
II. Wir erklären diesen Staatsschulden-Etat auf immer für geschlossen. Ueber die darin angegebene Summe hinaus darf kein Staatsschuldschein oder irgend ein anderes Staatsschulden-Dokument ausgestellt werden.
Sollte der Staat künftighin zu seiner Erhaltung oder zur Förderung des allgemeinen Besten in die Nothwendigkeit kommen,zur Aufnahme eines neuen Darlehns zu schreiten, so kann solches nur mit Zuziehung und unter Mitgarantie derkünftigen reichsständischen Versammlung geschehen.
...
So geschehen und gegeben Berlin, den 17ten Januar 1820
C. Fürst von Hardenberg [13]
Es gab keine reichsständische Versammlung!
Die auf dem europäischen Kontinent unter Gregor XVI. operierende katholische Kirche, die sich mit dem am Staatsstreich Karl X. in Paris mitwirkenden Staatssekretär Lambruschini und dem zum Chef der Jesuiten ernannten Roothaan im Fahrwasser der Liberalen bewegte, nahm Preußen ins Visier. In München ausgebildete Jesuiten strömten ins Land [14]. Der Gefahr bewußt setzte 1838 König Friedrich Wilhelm III. ein Testament auf, in dem er bestimmte »…, daß kein künftiger Regent befugt seyn soll, ohne Zuziehung sämtlicher Agnaten in dem königlichen Hause eine Aenderung oder Einleitung zu treffen, wodurch eine Veränderung in der jetzigen Verfassung des Staats, namentlich in Beziehung auf die ständischen Verhältnisse und die Beschränkung der Königl. Macht bewirkt oder begründet werden könnte.« Wäre der König genötigt einen Kredit aufzunehmen, so mußte er eine Reichsständische Versamlung einberufen, die zur Hälfte aus, von ihm zu wählenden, Mitgliedern des Staatsrats bestehen sollte. »Andere Fragen, als über den oben erwähnten Gegenstand, werde ich einer solchen Versamlung nie vorlegen… Ich verpflichte hiermit meine Nachfolger in der Krone, nach den vorangegangenen Bestimmungen zu verfahren [15].«
Um die Voraussetzungen zur Aufnahme von Krediten zu schaffen erließ Friedrich Wilhelm IV. am 3.2.1847 das Patent, zur Vereinigung der acht provinzialen Landtage. Der vereinigte Landtag setzte sich zusammen aus 237 Abgeordneten des Ritterstandes, 182 der Städte und 124 der Landgemeinden. Über dem Landtag rangierte die Herrenkurie des 1. Standes (70 Fürsten, Grafen, Prinzen…). Die Verhandlungen in den beiden Gremien wurde je Kurie einem von der Regierung ernannten Marschall übertragen [16].
Zum 11.4.1847 berief der König den vereinigten Landtag ein. In seiner Thronrede sprach er von den Rechten und Pflichten der Stände:
»Das aber ist Ihr Beruf nicht: „Meinungen zu repräsentieren,“ Zeit- und Schulmeinungen zur Geltung bringen zu sollen. Das ist vollkommen undeutsch und obenein vollkommen unpraktisch für das Wohl des Ganzen, denn es führt nothwendig zu unlösbaren Verwicklungen mit der Krone, welche nach dem Gesetze Gottes und des Landes und nach eigener freier Bestimmung herrschen soll, aber nicht nach dem Willen von Majoritäten regieren kann und darf, wenn Preußen nicht bald ein leerer Klang in Europa werden soll [17]!«
Es wundert nicht, daß der Landtag dem König die Kreditaufnahme verwehrte [18].
Quellen:
[ 1] Bleyer, Alexandra, Das System Metternich, Darmstadt 2014, S. 127
[ 2] Senn, Rolf Thomas, In Arkadien, Berlin 2013, S. 263
[ 3] Seignobos, Charles, Geschichte der französischen Nation, München,Berlin 1936, S. 264f
[ 4] Lord Rosebery, Napoleon I. am Schluß seines Lebens, Leipzig 1901, Anhang
[ 5] Treitschke, Heinrich von, Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert Fünfter Teil, Leipzig 1927, S. 112
[ 6] ebd. S. 80
[ 7] Sybel, Heinrich v., Die Begründung des Deutschen Reiches durch Wilhelm I. Erster Band, Paderborn 2012, S. 77
[ 8] Lord Rosebery, a.a.O., S. 222
[ 9] Herre, Franz, Friedrich Wilhelm IV. Der andere Preußenkönig, Gernsbach 2007, S. 65
[10] Marx/Engels, Werke, Band 4, Berlin 1972, S. 32f
[11] Treitschke, Heinrich von, Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert Zweiter Teil, Leipzig 1927, S. 141ff
[12] Schmitz, Christian, Die Vorschläge und Entwürfe zur Realisierung des preußischen Verfassungsversprechens, Göttingen 2010, S. 313ff
[13] Preußische Gesetzsammlung 1820, S. 9 in Ernst Rudolf Huber, Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte Band 1, Stuttgart, 1992
[14] Treitschke, Heinrich von, Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert Vierter Teil, Leipzig 1927, S. 670 u. S. 707ff
[15] Friedrich Wilhelm III., zitiert nach Treitschke, Deutsche Geschichte… Vierter Teil, S. 738
[16] Obermann, Karl, Deutschland von 1813 bis 1849, Berlin 1976, S. 188
[17] Friedrich Wilhelm IV., Reden und Wirken Sr. Majestät Friedrich Wilhelm des Vierten, Leipzig 1855, S. 53f
[18] Obermann, Karl, a.a.O. S. 191