In der Schlußakte vom 9. Juni 1815 des Wiener Kongreßes erhielt Kaiser Alexander I. von Rußland das Herzogtum Polen zugesprochen. Im Artikel I Absatz 1 des Vertrages über Polen wurde festgelegt:
Les Duché de Varsovie,... est réuni à l'Empire de Russie.
S.M. l'Empereur Impérial se réserve de donner à cet Etat, jouissant d'une administration distincte l'extension intérieure qu'Elle jugera convenable...
Elle prendra, aves Ses autres titres, celui de Czar, Roi de Pologne
Im Artikel I Absatz 2 des Vertrages wurde die Rechtsstellung der polnischen Minderheiten in Rußland, Österreich und Preußen festgelegt:
Les Polonais, sujets respectifs de la Russie, de'l Autriche et de la Prusse, obtiendront une représentation et des institutions nationales,...
was zunächst in Polen und später auch in den betreffenden Staaten vergessen wurde
[ 1].
Am 27.11.1815 erließ Alexander in seiner Eigenschaft als König von Polen die polnische Verfasssung. Diese Verfassung wurde in französischer und polnischer Sprache veröffentlicht. Sie wurde nicht in der russischen Sprache veröffentlicht.
Die ersten Artikel definieren die Beziehung Polens zu Rußland, sowie die Stellung des russischen Kaisers, wie dessen Nachkommen, als Könige von Polen. Nach außen hin wird Polen von Rußland vertreten. Die innenpolitischen Angelegenheiten liegen in den Händen des Königs und der polnischen Staatsorgane [ 2].
Grob skizziert handelte es sich bei den Instanzen der Staatsorgane um den König, den Staatsrat, den Senat (30 Mitglieder, davon 10 kath. vom Papst bestätigte Bischöfe, 10 Woiwoden und 10 Kastellanen) und den Landboten (128 Mitglieder). 77 wurden von den Adelsversammlungen oder den Landtagen der Distrikte, 51 von den Gemeindeversammlungen delegiert.
Gesetzesvorschläge werden vom Staatsrat ausgearbeitet und auf Befehl des Königs dem Reichstag vorgelegt, d.h. in der Landbotenkammer diskutiert und beschlossen und vom Senat bestätigt. Der König hatte das Recht, einem Gesetz, trotz einer Ablehnung durch den Senat, Gültigkeit zu verschaffen [ 3].
Am 26.3.1818 hält Kaiser Alexander I. vor den polnischen Reichsständen eine Rede in dessen Verlauf er sagte [ 4]:
»Der Minister des Innern wird Euch den gegenwärtigen Zustand der Verwaltung des Königreichs darlegen; Ihr werdet die Gesetzentwürfe kennen, welche den Gegenstand Eurer Berathschlagung ausmachen sollen. Sie bezwecken fortschreitende Verbesserungen. Die Verbesserung der Staatsfinanzen erfordert noch Kenntnisse, welche allein die Zeit und eine richtige Schätzung Eurer Hülfsquellen der Regierung liefern können. Die constitutionelle Regierungsform wird nach und nach auf alle Theile der Verwaltung angewendet.
Die Justizordnung wird in kurzem gebildet werden. Vorschläge, die bürgerliche und Strafgesetzgebung betreffend, werden zu Eurer Kenntniß gebracht werden. Ich will gern glauben, daß, wenn Ihr sie mit ausdauernder Aufmerksamkeit prüfet, Ihr Gesetze vorlegen werdet, welche bestimmt sind, die kostbarsten Güter zu sichern:
die Sicherheit der Personen, die Eures Eigenthums, und die Freiheit Eurer Meinungen.«
Die polnische Verfassung garantierte u.a.:
Alexander bittet die versammelten Polen den Zeitgenossen zu beweisen, daß »liberale Institutionen… kein gefährlicher Traum sind… Vertreter des Königreichs Polen erhebt Euch zur Höhe Eurer Bestimmung… Ihr seid berufen, Europa, das auf Euch blickt, ein großes Beispiel zu geben[ 5].« Der Kaiser hätte es besser wissen müssen. Die Polen verlangen Posen, Litauen, Podolien und Wolhynien [ 6].
Polen besaß seine Entfaltungsmöglichkeiten im Bildungs- und Justizwesen, vor allem aber auf wirtschaftlichem Gebiet. Der Staat erholte sich von den immensen Kriegsschäden. Getrübt wurde das Bild durch den russischen Militärgouverneur Konstantin Pawlowitsch, dem jüngeren Bruder Alexanders, der es verstand durch seine Rücksichtslosigkeit gegenüber der Bevölkerung und den Soldaten den Zorn der Menschen auf sich zu ziehen [ 7].
Vom ersten Tag seiner Herrschaft an beabsichtigte Alexander die bürgerlichen Rechte in Rußland einzuführen [A]. Anfängliche Bemühungen dies mit jungen, politisch unerfahrenen Mitstreitern zu erreichen mißlangen und er sah sich genötigt auf politisch erfahrenere doch konservative Kräfte zurückzugreifen. Während des kurzen Bündnisses mit Napoleon konnte er in dessen Windschatten und dank Spéranskij die ersten Reformen (die Organisation des Reichsrates 1810) durchsetzen.
Einerseits mußte er seine, gegenüber Napoleon fortbestehende Feindschaft [B], geheim halten, was ihm die Möglichkeit nahm, in der russischen Gesellschaft um Bündnispartner zu werben, andererseits verprellte er den russischen Adel, da dessen Einnahmen aus dem Getreideexport, infolge der Kontinentalsperre, wegbrachen. Nicht zuletzt erwuchs ihm auch in dem anglophilen Czartorýski (ehemals Außenminister) eine erbitterte Opposition [ 8].
Rußland jammerte, weil der Kaiser die Polen bevorzuge, ihnen eine Verfassung gewährte, bevor sie in Rußland überhaupt erarbeitet worden sei, während die Konservativen und Alt-Russen gegen ihn intrigierten.
Kaiser Alexander I. mußte die Macht der Kirche wie die Macht der Großfürsten brechen und sich des international gesponserten Intrigantentums erwehren.
Die ständigen Reisen Alexanders beförderten das Intrigantentum, was den Führer des russischen Despotismus Karamsin Raum bot seinen Irrsinn: »Das Heil liegt in der Autokratie und nur in ihr. Der Adel und die Geistlichkeit, Senat und Synod, über allem der Kaiser als einziger Gesetzgeber, als einzige Quelle aller Gewalten – das ist die Grundlage der russischen Monarchie[ 9]« zu verbreiten.
Gegen die Macht der Kirche und der sich auf sie berufenden Scharfmacher versuchte er sich selbst als religiöse Autorität zu etablieren.
Auf dem Wiener Kongress strebte er die Gründung einer Heiligen Allianz an. Golizyn, Minister der Volksaufklärung, gründete Bibelgesellschaften, die für die Verbreitung und Auslegung der ins Russische übersetzten Bibel sorgte. Spéranskij ging sogar soweit die Freimaurerei verbieten zu lassen, um eine eigene Loge zu gründen, deren Ziel darin bestand, junge, der Politik des Kaisers verbundene Priester zu organisieren. An diesem Punkt wuchsen die Widerstände in einem Maße an, das den Kaiser dazu zwang, seine Politik zu ändern. Spéranskij wurde aus der Schußlinie genommen, nach Sibirien verbannt, Gouverneur von Perm und 1819 Generalgouverneur von Sibirien [10]. 1821 durfte er nach Petersburg zurückkehren [11]. 1824 wurde Golizyn entlassen [12].
Der Krieg gegen Napoleon hatte die Finanzen des Staates zerrüttet. Durch den sinkenden Rubelkurs sahen sich die Beamten des russischen Reiches ermuntert ihre Macht meistbietend an den Mann zu bringen oder im Dienst des eigenen Wohlstandes Geld geeigneter Opfer zu erpressen.
Alexander selbst war nicht mehr in der Lage die Kosten für die Unterhaltung des Heeres aufzubringen. Im Mai 1816 hatte er in einem Brief an den britischen Außenminister Castlereagh für eine allseitige Abrüstung geworben.
Doch das paßte nicht in das Konzept der englischen Politik. Castlereagh sinngemäß: Rußland brauche keine starke Armee. Das Land sei so groß, daß sich die Gegner darin totliefen und den Rest übernehme der harte Winter [13].
So entwickelte Alexander die Idee von sich selbst erhaltenden Militärkolonien, in denen die Soldaten mit ihren Familien angesiedelt wurden und neben ihrem Militärdienst das ihnen zur Verfügung gestellte Land bestellen mußten. Die Kolonien verfügten über solide Häuser, Schulen und Krankenhäuser. Hier sollte der moderne Mensch erzogen werden, was angesichts einer tausendjährigen Gewaltherrschaft d.h. Gewalterfahrung in die Katastrophe führen mußte. Die Kolonisten wurden von ihren Vorgesetzten entrechtet und ausgebeutet.
Alexander I. wurde innenpolitisch isoliert und international ausmanövriert. Trotzdem gelang es ihm die den Polen gewährten Rechte bis zu seinem Tode 1825 zu bewahren [14].
Anhang:
[A] Reformentwurf Alexanders bei Regierungsantritt [15]:
[B] Kaiser Alexander im Sept. 1808 an seine Mutter:
»Tun wir so, als ob wir fest zur Allianz hielten, nur so können wir den Verbündeten in Sicherheit wiegen. Gewinnen wir Zeit… Kommt die Stunde, dann werden wir am Sturz Napoleons in aller Ruhe mitwirken [16].«
Quellen:
[ 1] Makarov, Alexander N., Die russisch-polnischen Rechtsbeziehungen seit 1815 unter spezieller Berücksichtigung der Staatsangehörigkeitsfragen in
Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht 1/1929 S. 330ff unter http://www.zaoerv.de abgerufen am 12.4.2017
[ 2] ebd. S.335ff
[ 3] Voigt, Erduin W. K., Alexander I. – Kaiser von Russland und König von Polen, Zerbst 1830, S. 138
[ 4] ebd. S. 125
[ 5] van Taak, Merete, Zar Alexander I. – Napoleons genialer Antipode, Tübingen 1983, S. 458
[ 6] ebd. S. 459
[ 7] Trees, Pascal, Königreich Polen 1815-1915 auf http://www.herder-institut.de abgerufen am 14.04.2017
[ 8] Rimscha, Hans von, Geschichte Russlands, Darmstadt 1970, S. 419
[ 9] ebd., S. 430
[10] Schiemann, Theodor, Geschichte Russlands unter Kaiser Nikolaus I., Bnd. I, Berlin 1904, S. 88ff
[11] Rimscha, Hans von, a.a.O., S. 431
[12] van Taak, Merete, a.a.O. S. 480f
[13] van Taak, Merete, a.a.O. S. 450
[14] Trees, Pascal, a.a.O.
[15] Schiemann, Theodor, a.a.O., S. 58
[16] Rimscha, Hans von, a.a.O., S. 419