g-schichten.de
G-SCHICHTEN.DE

Eine Bildungsreform im Sinne der Aufklärung.

Seite drucken

Preußen Anno 1717.

In Preußen regiert ein König dessen Prunksucht sich auf den Staatsschatz, das Heer und die Bildung seiner Untertanen reduzierte.

»Wir vernehmen missfällig und wird verschiedentlich von denen Inspectoren und Predigern bey Uns geklaget, dass die Eltern, absonderlich auf dem Lande, in Schickung ihrer Kinder zur Schule sich sehr säumig erzeigen, und dadurch die arme Jugend in grosse Unwissenheit, so wohl was das lesen, schreiben und rechnen betrifft, als auch in denen zu ihrem Heyl und Seligkeit dienenden höchstnötigen Stücken auffwachsen laßen [ 1]

… sagte König Friedrich Wilhelm I. (1688-1740) von Preußen und erließ am 28. September 1717 die Verordnung zur allgemeinen Schulpflicht in den königlichen Domänengütern. Für Eltern, die das Schulgeld nicht zahlen konnten setzte er zum Ärger seiner Minister hinzu [ 2]:

»So wollen Wir dass solche Zwey Dreyer aus jeden Ortes Allmosen bezahlet werden sollen.«

A. L. R. 1794 – Öffentliche Schulen sind Anstalten des Staates.

Das von Friedrich II. veranlaßte und von Friedrich Wilhelm II. 1794 erlassene Allgemeinen Landrecht (A. L. R.) lieferte den preußischen Bildungseinrichtungen erstmals eine gesetzliche Grundlage [ 3].

Th. II. Tit. 12.
 
§.1. Schulen und Universitäten sind Veranstaltungen des Staats, welche den Unterricht der Jugend in nützlichen Kenntnissen und Wissenschaften zur Absicht haben.
§.2. Dergleichen Anstalten sollen nur mit Vorwissen und Genehmigung des Staats errichtet werden.
§.9. Alle öffentlichen Schul- und Erziehungsanstalten stehen unter der Aufsicht des Staats und müssen sich den Prüfungen und Visitationen desselben zu allen Zeiten unterwerfen.

Preußen Anno 1807.

„Der Zopf ist ab!“ Nach den katastrophalen Niederlagen gegen Napoleon brach König Friedrich Wilhelm III. mit der friedritzianischen Tradition, deren Symbol der Soldaten Zopf war. Der aristokratische Staat hatte sein Unvermögen hinlänglich ausgekostet und war immer weniger im Stande, sich eine Funktionselite heranzuzüchten, die einerseits klug genug war, ihre Aufgabe zu erfüllen auch weil sie andererseits dümmer sein mußte als die Feudalherren.

Das Haushofmeister-System
 
Der Werdegang des Philosophen Johann Gottlieb Fichte mag als Beispiel dienen. Fichtes Großeltern waren Leibeigene, der Vater ein Bandweber in Rammenau. Der Dorfpfarrer unterrichtete die Kinder seines Sprengels, wenn ihm der Sinn danach stand, während einiger Stunden in der Woche. Von Fichtes Intelligenz angetan, wurde der Junge dem kursächsischen Grafen Ernst Haubold von Miltitz zur weiteren Bildung empfohlen. Fichte gelangte an die vom sächsichen Herrscherhaus gestiftete Schulpforte (bei Naumburg). Hier lernten die Zöglinge aus den Reihen der Aritokratie das Herrschen und Befehlen und die Stipendiaten aus der niederen Bürgerschicht, das Gehorchen. Karzer und Prügelstrafe sorgten für die nötige Demut und Untertanengeist. Fichte schaffte es bis an die Universität in Jena. Hinter das Studium war das Haushofmeister geschaltet. Der frisch gebackene Pfarrer oder Lehrer bekam keine Anstellung sondern hatte sich jahrelang als Hauslehrer zu verdingen. Wer nicht den Geschmack des vermögenden Guts- oder Hausherrn traf, wurde vor die Tür gesetzt. Nach Jahren der Zermürbung hatte dann der Pfarrer oder Lehrer das „rechte“ Format, in die Dienste des Landes oder der Kirche eintreten zu dürfen.
 
Fichte diente 9 Jahre als Hauslehrer,
Kant ebenfalls 9 Jahre
Hegel mußte über 7 Jahre als Hauslehrer sein Brot verdienen
Schelling mehr als 3 Jahre usw. usf.

 
Diese Riege außerordentlicher Philosophen verdankten die Ausbildung ihres Verstandes mehr oder weniger dem Glück, die Unerbittlichkeit und Hartnäckigkeit mit denen sie für eine Erziehung der Menschen zum Gebrauch des ihnen eigenen Verstandes stritten, dem Leben.
 
vgl.: Schuffenhauer, Heinz, Johann Gottlieb Fichte, Köln 1985, S. 8ff, 12f u. 17

Neue Menschen mußten her, um Preußen neu zu erfinden. Hardenberg und Stein wiesen in ihren Denkschriften die Richtung. Die Ideen der Aufklärung, vor allem die des in Königsberg lehrenden Philosophen Immanuel Kant, waren in aller Munde. Steins Reformen eröffneten im Sinne der Aufklärung den Bürgern des Landes weiterreichende Möglichkeiten zur Selbstverwaltung und Mitbestimmung. Frei nach Heinrich Deiters: Die Verfassungsbewegung selbst ist im Ganzen und in ihren einzelnen Bestimmungen von der Idee, die Menschen des gesamten Volkes zu bilden, durchdrungen [ 4]. In diesem Sinne wurde im Innenministerium die Sektion für Kultus und öffentlichen Unterricht eingerichtet. Das Innenministerium unterstand, durch Kabinettsorder vom 13. Dezember 1808 (bis zum 17. November 1810) dem Grafen von Dohna [ 5].

Zur Umsetzung der geplanten Bildungsreformen richtete man, den Plänen Steins folgend, mit Kabinettsorder vom 14.12.1809, drei wissenschaftliche Deputationen ein [ 6]. In Berlin wurde auf das bereits bestehende Oberschulkollegium zurückgegriffen. In Königsberg und Breslau wurden die Deputationen neu eingerichtet [ 7].

Deputationen der Sektion für Kultus und Unterricht.

Das Humboldtsche Bildungsideal verbietet eine dokrinäre Verordnungspolitik. Der Informationsfluß und die gemeinsame Erarbeitung neuer Erkenntnisse in den von den Beteiligten geführten Auseinandersetzungen, war Weg und Ziel seines Ansatzes. In dieser Weise band er auch die drei Deputationen an die Sektion für Kultus und Bildung an.

In den „Ideen zu einer Instruktion für die wissenschaftliche Deputation bei der Sektion des öffentlichen Unterrichts“ wies Wilhelm v. Humboldt den Deputationen folgende Aufgaben zu:

  • Umsetzung von Aufträgen der Sektion
  • Bewertung der „aus dem Publicum“ eingebrachten Vorschlägen
  • Unaufgeforderte Kritik/Verbesserungsvorschläge hinsichtlich der bestehenden Einrichtungen
    des ihnen übertragenen Arbeitsbereiches (Unterrichtsmethoden, Lehrpläne, Lehrbücher, Stellenbesetzung…)
  • Lehramtsprüfungen und Eignungsprüfungen zur Besetzung von Stellen in der Sektion [ 8].

Vor allem aber habe die Deputation dafür Sorge tragen, »dass die wissenschaftliche Bildung sich nicht, nach äussern Zwecken und Bedingungen, einzeln zersplittere, sondern vielmehr zur Erreichung des höchsten allgemeinen menschlichen in Einem Brennpunkt sammle [ 9].

Wilhelm von Humboldt.

König Friedrich Wilhelm III. berief – vermutlich auf Empfehlung des Freiherrn vom Stein – durch Kabinettsorder vom 10. Februar 1809, Wilhelm von Humboldt zum Leiter der Sektion für Kultus und öffentlichen Unterricht.

Von 1801 bis 1808 wandelte Humboldt auf Goethes Spuren – als Diplomat beim Vatikan in Rom [10]. Wenig geneigt die Stelle eines Sektionleiters unter dem Minister des Inneren anzutreten, erbat sich Humboldt das Recht, sich seine Mitarbeiter selbst zu wählen. Als technische Räte traten Georg Heinrich Nicolovius und Johann Wilhelm Süvern in die Sektion ein. Der evangelische Theologe Nicolovius wurde Leiter der Abteilung für Kultus (d.h. Religion), Süvern arbeitete unter der von Humboldt selbst geleiteten Abteilung für Unterricht und kümmerte sich hier in erster Linie um die Reform des höheren Schulwesens [11].

Hinsichtlich der Volksschulen existierten in Preußen neben vorbildlichen, der Initiative einzelner zu dankender Schulen, Schulen an denen schlecht bzw. nicht ausgebildete Lehrer Klassen mit bis zu 100 Schülern, mit wenig Erfolg, unterrichteten. Georg Nicolovius überzeugte Humboldt anhand einzelner – von Carl August Zeller geleiteten Pestalozzischen Normalinstituts inspirierten – Volksschulen in Ostpreußen, die Schüler an den Elementarschulen nach den Vorstellungen Pestalozzis zu bilden [12].

Ein Mitarbeiter und Protegé Steins, der spätere Gouverneur bzw. Oberpräsident (1815) von Westfalen von Vincke, 1798 bis 1803 als Landrat von Minden besonders um die Besserung des Landschulwesens bemüht, empfahl die Berufung Ludwig Natorps in die Märkische Regierung zu Potsdam.

Ludwig Natorp war evangelischer Pfarrer in Hückeswagen (Essen). In erster Linie durch seine theologischen Schriften bekannt, machte er sich auch als Pädagoge einen Namen. In der Mark Brandenburg sollte der 1809 zum Oberconsistorial- und Schulrath ernannte Natorp die Reform des Bildungswesens in die Landschulen tragen.

Friedrich Eberhard Freiherr von Rochow entwickelte ab 1760 Gut Reckahn zu einem Musterbetrieb. Für ihn gehörte eine der Aufklärung verpflichtete Musterschule dazu und Schulbücher, die es als solche kaum gab. Also vergeudete er sein Geld indem er den Schülern Bücher beschaffte, die ihnen den zu lernenden Stoff in geeigneter Weise darlegten: Schulbücher.

Normal war das nicht, normal war hingegen nichts für die Bildung auszugeben, sofern sie Sache der Kirche war und oder die Lehrer mit einer warmen Suppe abzuspeisen.
Natorp läßt in seinen Briefwechseln 1811 einen glücklichen Lehrer Sommerfeld zu Worte kommen, der als Kostgänger der Bauern, als ein Armer unter Armen das Glück der Solidarität der Gemeinde erfuhr [13].

Rochow starb 1806. Sein Vermächtnis lautet:

Eine Schule ist eine gute Schule, wenn der Lehrer ein guter Lehrer ist!

Von Natorp aufgegriffen:

»Das Haupttriebwerk, welches die Schule in Bewegung setzt, ist überall und immer der Lehrmeister. Jede Verbesserung des Schulerziehungswesens muß von der Wirksamkeit dieses Schulgesetzes ausgehen[14]

Wilhelm von Humboldt ernannte Natorp zum beratenden Mitglied der Sektion für Cultus und öffentlichen Unterricht.

Natorp sorgte an den Schulen für Ordnung. Er führte ein verbindliches Schuljahr ein. Eingeschult wurde nicht nach Lust und Laune sondern einmal im Jahr. Unterrichtsbeginn und -dauer wie Ferienbeginn und -dauer wurden geregelt. Die Schule war Ort der Bildung und nicht Plattform elternlicher Befindlichkeiten.
Eltern konnten sich in Schulfragen an den von der Gemeinde einzurichtenden Schulvorstand wenden [15]. Hier war Schule nicht mehr die Sache des Staates, sondern der Nation, d.h. nach den Stein’schen Reformen lag es in der Verantwortung der Bürger, die Gemeindeverwaltung mit kompetenten Menschen zu besetzen[16].

Natorp forciert durch seine Havellandreise 1809 die Bildung von Lehrergesellschaften und trägt zur Gründung von Schullehrerkonferenzgesellschaften bei [17]. Damit lag er ganz auf Humboldts Linie [18]. Lothar Gall über Humboldt [19]: »Es ging ihm um den Aufbau eines von der Nation getragenen Gemeinwesens, das den selbständigen Kräften innerhalb dieser Nation den weitestmöglichen Spielraum ließ.«
Mit Etablierung der Lehrerkonferenzen wurde ein robustes Netzwerk geschaffen, das die Ideen der Bildungsreform auch in den Zeiten der Restauration am Leben erhielt.

Humboldt ging davon aus, daß jeder Mensch die Welt auf seine eigene Weise versteht, seine Bildung ihm all seine Anlagen in harmonischer Weise zur Entfaltung bringen müsse und nichts mit der Anerziehung ständischen bzw. berufsspezifischen Rollenverhaltens zu tun habe. Das preußische Bildungswesen rückte die Menschenbildung ins Zentrum seiner Bestrebungen [20].

Dieser Ansatz war unvereinbar mit dem Aufbau eines Bildungssystemes, wie es z. B. in England oder Frankreich existierte. In England herrschte ein von Privatschulen bestimmtes Schulsystem. Das zu übernehmen hieße, so Ludwig Natorp, »einen bedeutenden Rückschritt thun.« Nicht privates wankelmütiges Gönnertum sondern nur der Staat vermochte einen möglichst hohen qualitativen Bildungsstandard auf Dauer zu gewährleisten [21].

In Preußen bedurfte es zur Anstellung von Lehrern für die höheren Schulen der Zustimmung einer staatlichen Behörde. So erließ die Sektion am 15. September 1809 eine Verordnung, nachder der Übertritt von Lehrern an höherere Schulen von einem Gespräch mit der Prüfungsbehörde und des in deren Gegenwart abzuhaltenden Probeunterrichts abhing [22]. Der Ascensionsprüfung folgte das Edikt vom 12. Juli 1810 zur Prüfung aller Kandidaten des höheren Schulwesens [23].

Anders auch als in England oder Frankreich sollte es in Preußen keine Konfessionsschulen geben, wie es auch keine gesonderten, den höheren Ständen vorbehaltene, Schulen geben sollte. Alle Stände hatten die selbe Schulbank zu drücken [24] Die Schulen sollten mit eigenem Besitz (Domänen etc.) ausgestattet, Geld erwirtschaften, um sich weder den Interessen des Staates noch Einzelinteressen unterwerfen zu müssen [25]. Denn wem anderen sollte Bildung dienen, als dem Menschen, der Gattung wie des Individiums.

In der Sprache sah (nicht nur) Humboldt das individuelle Abbild eines Menschen, Ausdruck seiner Logik, seines Wissens, seines ganzen Charakters. Damit die deutsche Sprache den Schülern selbst Gegenstand werden kann, bedarf es der Kenntniss einer völlig fremden Sprache, damals: Griechisch und Latein.

Hegel:
 
»Um aber zum Gegenstand zu werden, muß die Substanz der Natur und des Geistes uns gegenüber getreten sein, sie muß die Gestalt von etwas Fremdartigen erhalten haben [26]
 
Das Erlernen einer fremden Grammatik läßt die ihr zugrunde liegende Logik zutage treten.
 
»Die Grammatik hat nämlich die Kategorie, die eigentümlichen Erzeugnisse und Bestimmungen des Verstandes zu ihrem Inhalte; in ihr fängt also der Verstand selbst an, gelehrt zu werden… wenn die Verstandesbedingungen, weil wir verständige Wesen sind und wir dieselben unmittelbar verstehen, so besteht die erste Bildung darin… sie zum Gegenstand unseres Bewußtseins gemacht zu haben [27]

Der preußische Staatsphilosoph Hegel sagt in seiner Rede zum Schuljahresabschluß 1809, daß der Gebrauch des eigenen Verstandes, jedem gesunden Menschen vermittelbar ist. Es gibt keine Kaste, oder wie immer sie zu nennen wäre, die ihre Herrschaft über andere, einem anderen Verdienst verdankte, als dem, der großen Mehrheit der Bevölkerung Bildung vorzuenthalten.

Auch Hegel war als Pädagoge Täter der Aufklärung im Kant’schen Sinne: Selbstbestimmung und Mündigkeit durch Vernunftgebrauch.

Die Bildungseinrichtungen und ihre Aufgaben.

Die Sektion für Kultus und Unterricht entwickelte das Konzept eines dreigliedrigen Schulsystems. Es sollte aus der Elementarschule, der höheren Bürgerschule und der gelehrten Schule (Gymnasium) bestehen [28].

Wer die obligatorische Prüfung zum Abschluß der Elementarschule bestand, war zum Besuch der höheren Bürgerschule bzw. der gelehrten Schule berechtigt.

Elementarschule (Nicolovius/Natorp):
Unterricht in der Muttersprache (in Posen war das polnisch) in Lesen, Schreiben u. Rechnen nach den Lehrmethoden Pestalozzis.
Weiterhin sollte Unterricht in den Fächern Sachkunde, Musik, Religion und Gymnastik erteilt werden [29].
 
Höhere Bürgerschule (Süvern/Bernhardi):
Unterricht entspricht den ersten drei Gymnasialklassen.
 
Gelehrte Schule (Gymnasium) (Süvern/Bernhardi):
Allgemeinbildender Unterricht, hauptsächlich in Mathematik, den alten Sprachen und Geschichte sowie in Propedeutik der Philosophie. Ziel der Gymnasialbildung war die Vermittlung eines allgemeinen Grundwissens und das Erlernen des Lernens.

Wer die Abiturientenprüfung bestanden hatte, war gemäß des Ediktes vom Winter 1809 zum Besuch einer Universität berechtigt.
Praktisch galt bis 1834 das Recht, nachdem die Zulassung zum Studium auch durch, von den Universitäten durchführte, Aufnahmeprüfungen zuerkannt werden konnte.

Die militärischen Bildungseinrichtungen lagen nicht im Verantwortungsbereich der Sektion. Davon, wie sehr das Humboldtsche Bildungsideal im Laufe der Zeit, selbst in den Köpfen einzelner Militärs Raum gegriffen hatte, zeugt kein Geringerer als der Realschulabsolvent Alfred von Tirpitz in seinen Erinnerungen 1919:

»Der von ihm zu Kiel gegründeten Marineakademie hat Stosch den richtigen Gedanken eingehaucht, weniger Fachwissenschaften zu lehren als Allgemeinbildung und Selbststudium zu fördern. Es wurde viel Mathematik getrieben, außerdem Philosophie, Natur-, insbesondere Meereskunde, wie wir denn von unsern Reisen viel an die Museen geschickt haben, und Astronomie, die man allenfalls zu den Fachwissenschaften rechnen kann [30].« »Stosch war«, nach Tirpitz, »als Persönlichkeit scharf wie gehacktes Eisen [31]

Der Schulplan.

Im November 1808 versprach Süvern dem König binnen kurzem die Vorlage eines umfassenden Schulplanes. Die von ihm bereits vorhandene, am 31.8.1808 ausgearbeitete, Denkschrift beschäftigte sich jedoch vorwiegend mit den Regelungen an höheren Schulen, insbesonderen mit den Abiturprüfungen (die Regelung zu den Abiturprüfungen erhielt 1812 Gesetzeskraft).

Natorp hatte 1804 und 1807 Denkschriften über das niedere Schulwesen verfaßt. Folgerichtig übertrug Süvern ihm am 11. Oktober 1812 die Aufgabe, zur Ausarbeitung eines Entwurfs über die Einrichtung der Elementarschulen [32].

Die aus dem Oberschulkollegium hervorgegangene wissenschaftliche Deputation erhielt die Aufgabe den öffentlichen Unterricht inhaltlich festzulegen. Friedrich Schleiermacher übernahm ab März 1810 (zunächst interimistisch) die Leitung der Deputation. Schleiermachers Fachbereich waren Theologie und Deutsch.
Unterstützung fand Schleiermacher durch die Sektion in Person des erfahrenen Gymnasialdirektors August Ferdinand Bernhardi. Bereits September 1810 war der Lehrplan fertig. Der als Gutachter bestimmte Altertumswissenschaftler Friedrich August Wolf war begeistert.
So wanderte der Lehrplan in die Schublade und ward hinkünftig nicht gern gesehen [33].

Nach Abschluß der Arbeiten am Lehrplan, widmete sich die wissenschaftliche Deputation Ende 1811 den Lehrbüchern zu. Mit ihnen sollten die Bereiche

  • lateinische, griechische und deutsche Grammatik,
  • die mathematischen Wissenschaften,
  • Naturgeschichte und Physik,
  • für die höheren Klassen: Kosmographie, mathematische, physische und bürgerliche Geographie
    Geschichte abgedeckt werden.
  • Die unteren und mittleren Klassen erhielten zudem ein deutsches Lesebuch [34].

Der gesamte Schulplan hätte ein zeitgemäßes Gesetz zur Schaffung eines öffentlichen, sich in ein gesamtpolitisches Konzept einfügendes, Bildungssystem abgegeben, das

  • Schulpflicht,
  • Schuleintritt bzw. Übertritt in Gymnasien, die Aufnahme eines Studiums
  • Lehreraus- wie Lehrerfortbildung und die
  • Schulträgerschaft und Finanzierung

in einheitlicher Weise für ganz Preußen geregelt haben würde [35].

Die Berliner Universität.

Am 12. Juli 1809 stellte Wilhelm v. Humboldt den Antrag auf Gründung der Berliner Universität. Am 16. August 1809 erging die Kabinettsorder König Friedrich Wilhelms III. zur Gründung der Universität. Zur Universität gehörten u.a. die Akademien, die Bibliothek, die oberste Medizinalbehörde, die Kunstkammer und die Sternwarte. Friedrich Wilhelm schenkte der Universität das Heinrichsche Palais und das Gebäude der Akademie [36].

Die vom König in Preußen, Friedrich I. 1699 gestiftete Akademie der Künste und mechanischen Wissenschaften wurde durch Verfügung des Innenministers Graf Dohna vom 29. April 1809 der Sektion unterstellt. Am 9. Juni 1809 wurde die Bauakademie mit der Akademie der Künste vereinigt. Der Maurermeister Carl Friedrich Zelter beantragte auch der Musik akademischen Rang einzuräumen. Humboldt befürwortete dies und König Friedrich Wilhelm III. machte am 17. Mai 1809 den Maurermeister zum Professor und Aufseher der Musik an der Akademie der Künste [37].

»Der Begriff der höheren wissenschaftlichen Anstalten, als des Gipfels, in dem alles, was unmittelbar für die moralische Cultur der Nation geschieht, zusammenkommt, beruht darauf, dass dieselben bestimmt sind, die Wissenschaft im tiefsten und weitesten Sinne des Wortes zu bearbeiten, und als einen solchen nicht absichtlich, aber von selbst zweckmäßig vorbereiteten Stoff zu seiner Benutzung hinzugeben [38]

Die Restauration.

Der Widerstand gegen die Reformen wuchs je stärker die Erinnerungen an die Katastrophe von 1806 verblaßte. Hinzu kamen Spezialisten in und außerhalb des Kabinettes die in ihren eigenen Sumpfblüten das Mittel zur Pflege ihrer Eitelheiten sahen. Die Zertrümmerung des Humboldtschen Bildungsideals begann lange bevor Metternich die Karlsbader Beschlüsse erzwang.

Humboldt bedurfte seine Vorstellungen umzusetzen die Erhebung der Sektion zum Ministerium und er setzte dem König diese Notwendigkeit auseinander. Friedrich Wilhelm III. sah das ähnlich. Da die Sektion auch für den Kultus, d.h. die Religionsangelegenheiten zuständig war, Humboldt aber jeder Religion fern stand, sah der König davon ab, Humboldt das Ministerium zu übertragen [39].

In der Frage ob der Berliner Universität eine königliche Domäne überlassen werden sollte, entschied das Kabinett dagegen. Damit sah Humboldt die Freiheit von Wissenschaft und Forschung substantiell gefährdet [40].

Hinzu kamen Bestrebungen des Kabinetts, der Sektion das Recht zu nehmen, sich direkt an den König zu wenden. Das schränkte Humboldts politischen Spielraum in einer ihm nicht zumutbar erscheinenden Weise ein [41]. So schied Humboldt aus der Sektion aus und erhielt den seinen Wünschen entgegenkommenden Posten als Gesandter. Daß Humboldt ausgerechnet die Gesandschaft in Wien leiten sollte, spricht für die Weisheit, den Humor und für die Art der Sympathien des preußischen Königs Friedrich Wilhelm III.

Ende November 1810 wurde Friedrich von Schuckmann mit der Leitung der Sektion für Kultus und öffentlichen Unterricht betraut, bevor er kurz darauf den Grafen Dohna als Innenminister ablöste.

Süvern blieb weiterhin als Staatssekretär im Amt. Der von ihm weitgehend ausgearbeitete Schulplan traf auf Schuckmanns Widerstand. Der Schulplan sollte nun nur noch inhaltliche Themen (z. B. was wann an welcher Schule gelehrt wird) bestimmen. Die geplante einheitliche gesetzliche Regelung von Schulträgerschaft und Finanzierung wurden vom Innenminister abgelehnt.

An sich schon konservativ wurde Schuckmann infolge der erstarkenden reaktionären Kräfte zum Parteigänger Wittgensteins und mithin Metternichs [42].

Lothar Gall:
 
»Gerade dies aber, den Schulunterricht auf eine allgemeine, auf den selbständig denkenden – und dann auch entsprechend handelnden – Menschen ausgerichtete Bildung hin zu orientieren, widersprach den Tendenzen, die dann mit der Restaurationszeit nach 1815/18 zu den herrschenden wurden. Der Schulunterricht sollte sich hier nun ganz auf die konkrete Lebenspraxis, auf die unmittelbaren Lebensziele der Schüler hin ausrichten… [43] «

Schlimmer noch, Beckedorff, Eylert, Snethlage und Schultz verfaßten 1821 ein Promemoria, das sich direkt gegen die Mitglieder der Unterrichtssektion wandte. Es wurden als „äußeren Zeichen des immer tiefer eindringenden Verderbens“, die Unbekanntheit der Jugend mit den positiven christlichen Religionswahrheiten, die mangelnde Achtung der Jugend vor dem moralischen Wert des höheren Alters, der Dünkel der Jugend, politische Verhältnisse beurteilen zu können, der Turnverbindungen, Burschenschaften und die grundverdorbenen revolutionären Gesinnung der Lehrenden und Schulvorsteher gesehen [44].


 

Anmerkung:

Nation:
Unter der preußische Nation verstanden Humboldt und einzelne Zeitgenossen nach Deiters [45] »nichts anderes als die Gesamtheit der Staatsbürger, die Gesellschaft im Unterschied zum Staat und seinen Organen«. Dem bleibt hinzuzufügen, daß Humboldt auch die Staatsbürokratie von den Organen der Nation, wie z.B. den Ständeversammlungen, unterschied.


 
Quellen:
 

[ 1] Zit. nach Downes, Peter, Gute Christen und gute Untertanen auf www.condor.cl/geschichte/schulpflicht-preussen, Stand 14.12.2019
[ 2] ebd.
[ 3] Wiese, Ludwig, Das höhere Schulwesen in Preußen, Berlin 1864, S. 4
[ 4] Deiters, Heinrich, Wilhelm von Humboldts Ansichten vom Wesen der Universität in 1767-1967 Wilhelm von Humboldt Erbe Gegenwart Zukunft, Halle 1967, S. 139
[ 5] Wiese, Ludwig, a.a.O., S. 5
[ 6] Gall, Lothar, Wilhelm von Humboldt – Ein Preuße von Welt, Berlin 2011, S. 153
[ 7] Lohmann, Ingrid, Lehrplan und Allgemeinbildung in Preußen, Frankfurt/M., Bern, New York 2014, S. 7
[ 8] ebd. S. 11
[ 9] Gall, Lothar, a.a.O., S. 155
[10] Humboldt, Wilhelm von, Gesammelte Werke Band 16, S. 189
[11] Tennenbaum, Rosa, Bildung zur schönen Menschlichkeit – Wilhelm von Humboldts Bildungsideal auf www.schiller-institut.de, Stand: August 1998
[12] Gall, Lothar, a.a.O., S. 156
[13] Scholz, Joachim, Die Lehrer leuchten wie die Sterne, Bremen 2011, S. 60
[14] ebd. S. 56
[15] ebd. S. 67
[16] Gall, Lothar, a.a.O., S. 162
[17] Scholz, Joachim, a.a.O., S. 121
[18] Gall, Lothar, a.a.O., S. 162
[19] ebd, S. 166
[20] Tennenbaum, Rosa, a.a.O.
[21] Scholz, Joachim, a.a.O., S. 54
[22] Gall, Lothar, a.a.O., S. 175
[23] Wiese, Ludwig, a.a.O., S. 11
[24] Wiegrefe, Klaus Die gute Revolution in DER SPIEGEL 33/2007 vom 13.08.2007
[25] Gall, Lothar, a.a.O., S. 163
[26] siehe Hegels Rede zum Schuljahresabschluß.
[27] ebd.
[28] Gall, Lothar, a.a.O., S. 152f
[29] Scholz, Joachim, a.a.O., S. 66
[30] Tirpitz, Alfred von, Erinnerungen, Leipzig 1919, S. 18f
[31] ebd. S. 17
[32] Scholz, Joachim, a.a.O., S. 65
[33] Gall, Lothar, a.a.O., S. 153
[34] Lohmann, Ingrid, a.a.O., S. 209
[35] Scholz, Joachim, a.a.O., S. 66f
[36] Gall, Lothar, a.a.O., S. 157
[37] ebd. S. 179ff
[38] ebd. S. 147
[39] ebd. S. 195
[40] ebd. S. 202f
[41] ebd. S. 208f
[42] Lohmann, Ingrid, a.a.O., S. 26
[43] Gall, Lothar, Wilhelm von Humboldt, a.a.O., S. 155
[44] Lohmann, Ingrid, a.a.O., S. 27
[45] Deiters, Heinrich, a.a.O. S. 138

G-SCHICHTEN.DE