Als die Erkrankung des Kronprinzen Friedrich ernsthafte Beschwerden hervorbrachte, kam es zu einem Streit zwischen den von Kronprinzessin Victoria favorisierten britischen Ärzten unter Leitung von Sir Morell Mackenzie und dem deutschen Ärzteteam Ernst von Bergmann. Bergmann diagnostizierte Kehlkopfkrebs und stellte eine düstere Prognose. Als Prinz Wilhelm sich Bergmanns Diagnose anschloß, verbot ihm seine Mutter Victoria jeden Kontakt mit dem kranken Vater.
Infolge der fulminanten Fehldiagnose des großen liberalen Arztes Rudolf Virchow – er diagnostizierte keinen Krebs – ging wertvolle Zeit verloren. Friedrich wurde im Februar 1888 operiert. Morell Mackenzie sah’s und sprach: „Ich lehne jede Verantwortung ab.“ [ 1][ 2]
Wer würde nicht aus der Haut fahren, wenn er - wie Prinz Wilhelm - hilflos zusehen müßte, wie der Vater aufgrund einer Fehldiagnose nicht die erforderliche Therapie erführe, wenn ihm, wie Prinz Wilhelm, jeglicher Kontakt zum Vater untersagt würde?
Journalisten war es erlaubt, von Morells Beobachtungszimmer aus, einen Blick auf den kranken Friedrich zu werfen, dem eigenen Sohn, Kronprinz Wilhelm, nicht. Seine an den Vater gesendeten Briefe wurden abgefangen. An Geschmacklosigkeit schwer zu überbieten waren die Journalisten Schnidrowitz und St. Cére die den Prinzen Wilhelm in seinem Unglück noch zu verhöhnen wußten [ 3].
Kronprinz Wilhelm gab nicht auf und organisierte zu Ehren seines Vaters Kaiser Friedrich III. eine von ihm angeführte Parade. Kaiser Friedrich III. übermittelte seinen Dank in einem Billet, das Wilhelm noch 1922 bedeutsam genug erschien, es in seinen Memoiren zu erwähnen.
Kaiser Friedrich III. war es der 1866 als Kronprinz im Krieg gegen Österreich mit dem ihm zu verdankenden Sieg bei Königgrätz Preußens Vormachtstellung in Deutschland gesichert hatte [ 4].
Gerühmt werden Friedrichs III. Kontakte zu den Liberelaen, wie etwa zu Friedrich Naumann (Namensgeber der Friedrich Naumann Stiftung der FDP) [ 5]:
»Was hülfe es uns, wenn wir einen Fürsten hätten, der sich leiten ließe? Oder wenn wir keinen hätten? Wäre dann die Demokratie und der Sozialismus in Deutschland auch nur einen Zentimeter weiter voran? Im Gegenteil! Unsere Fortschrittshoffnungen gründen sich mehr auf den Kaiser, als auf den Reichstag in seiner jetzigen Zusammensetzung.«
Die Nähe zur liberalen Politikern steht also nicht im Widerspruch zur ausgeprägten Sozialistenfurcht, dem Anti-Katholizismus einer pro-kolonialen Haltung und Kaiser Friedrichs III. Begeisterung fürs Militär [ 6]. Als Friedrich am 15. Juni 1888 starb, ließ Bismarck das Neue Palais durch das Militär abriegeln.
Das nahende Ende Kaiser Friedrich III. trieb Bismarck den Angstschweiß auf die Stirn. Der Reichskanzler ließ nach Unterlagen suchen, die geeignet waren, ihn zu kompromittieren. Er kam zu spät. Victoria, sich selbst Kaiserin Friedrich nennend, hatte die Tagebücher ihres Gatten schon nach London geschickt. Im Oktober 1888 ließ Heinrich Geffcken Auszüge aus dem Tagebuch in der Deutschen Rundschau veröffentlichen, die Bismarcks Rolle im Vorfeld der Reichsgründung beleuchteten. Friedrich selbst pflegte zu Lebzeiten ein prakmatisches Verhältnis zu Bismarck [ 7].
Prinz Wilhelm überlebte in seiner Kindheit und Jugend Traumata, die weniger stabile Charaktere in den Wahnsinn getrieben hätten. Er war ein kreativer Kopf, unvoreingenommen, neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen gegenüber aufgeschlossen, er förderte die Entwicklung und Einführung neuer Technologien, er war ein anerkannter Archäologe, in den Ingenieurswissenschaften bewandert und vermochte die politische Lage in einer Klarheit zu erfassen, die die vitalsten Gemüter erblassen ließen. Man könnte seine mangelnde Affektkontrolle kritisieren. Unterm Strich besaß er alle Eigenschaften, die das Establishment fürchtete.
Kaiser Wilhelm II. war für das Establishment ein Sicherheitsrisiko.
Bismarck suchte den jungen Kaiser zu instrumentalisieren und konstruierte einen, unter dem Pantoffel seiner angelsächsischen Frau Victoria stehenden, liberalen Kaiser Friedrich III. Der Kanzler versuchte einen Keil zwischen Wilhelm II. und dessen Eltern zu treiben.
Victoria hatte es ihrem Sohn ihrerseits nicht leicht gemacht, die in Kindern natürlich verankerte Liebe zu den Eltern zeigen zu dürfen. Bismarcks Unterfangen, das Ansehen seiner Eltern und damit das Ansehen der Hohenzollern-Dynastie zu untergraben, waren aber zu fadenscheinig, als daß Kaiser Wilhelm II. dem einen Wert bemessen konnte [ 8].
20 Jahre später ließ Kaiser Wilhelm II., für jeden sichtbar, in der Kaiser Wilhelm Gedächtniskirch die obersten Grundsätze seiner Politik in einem Mosaik versinnbildlichen. Der Zug der Hohenzollern zeigt die Dynastie, beginnend mit Königin Louise und endend mit seinem designierten Nachfolger dem Kronprinzen Wilhelm, auf dem Weg zum Abendmahl.
Kaiser Wilhelm II. in Ereignisse und Gestalten:
»Ich verehrte und vergötterte ihn [Bismarck]. Man bedenke mit welcher Generation ich groß geworden bin. Es war die Generation der Bismarckverehrer… Bismarck war der Götze in meinem Tempel, den ich anbetete.«
»Aber Monarchen sind eben auch Menschen aus Fleisch und Blut, deshalb sind sie auch den Wirkungen ausgesetzt, die sich aus den Handlungen Anderer ergeben. So wird man wohl menschlich verstehen können, daß Fürst Bismarck durch seinen Kampf gegen mich mit wuchtigen Schlägen selbst den Götzen zertrümmert hat, von dem ich vorher sprach.«
Kaiser Wilhelm II., Ereignisse und Gestalten, 1922, S. 3
Bismarck, dessen Plan, Paris im Dezember 1870 mit Geschützen sturmreif schießen zu lassen, vom Militär Moltke vereitelt werden konnte, warf dem Sohn der „Kaiserin Friedrich“ Gefühlskälte und Selbstherrlichkeit vor. Wilhelm wird weiter vorgeworfen, sich bei seinem Opa, dem Kaiser Wilhelm I. die Zuneigung geholt zu haben, die ihm seine Mutter Victora verweigerte.
Den Versuchen, Wilhelm für eine politische Richtung einzuspannen, begegnete der spätere Kaiser, indem er die Zeit in der Armee verbrachte. Auch das wurde ihm zu Vorwurf gemacht, wohl deshalb, weil er sich Bismarcks Einfluß entzog [ 9].
Der Reichskanzler und Außenminister Otto v. Bismarck spricht dem Kronprinzen in seinen Erinnerungen jede Befähigung, zum Amt eines deutschen Kaisers ab. Zu dumm, daß er einen Brief Wilhelms aus dem Jahre 1888 in seinen „Erinnerungen“ wiedergab.
Der junge Kronprinz Wilhelm spricht darin von einem durch Panslawismus und französischen Republikanern begünstigtem russisch-französischen Bündnis. Die Deutschland gewogenen russischen Kaiser würden Gefahr laufen, ihren politischen Einfluß zu verlieren. Von Rußland erwartet er eine Provokation, die geeignet sei Deutschland die Kriegsverantwortung zuzuschreiben. Von Italien erwartet er, daß es seine Bündnispflichten gegenüber Deutschland und Österreich nicht nachkommt; von Deutschlands Feinden Bestrebungen, die deutschen Bundesgenossen abspenstig zu machen und von dem Battenberger (England) Finten Deutschland in einen Krieg zu ziehen. Wilhelm reklamiert, die deutsche, wie die österreichsiche Regierung über die militärische Bedrohung in Kenntnis zu setzen, sich zu rüsten und weiterhin auf eine friedliche Politik zu setzen [10].
Nach dem Tod Kaiser Friedrich III. schien der Thronwechsel eine gute Gelegenheit, die von Wilhelm I. ausbedungenen Rechte zu kippen. Wilhelm I. verfügte in seinem Dekret von 1882, daß der König von Preußen das Recht habe, »die Regierung und die Politik nach eigenem Ermessen zu leiten.« Er bestand auf dem Recht der letzten Entscheidung [11].
König Friedrich Wilhelm IV. hatte seinen Nachfolgern ein Schriftstück hinterlassen, nachdem diese sich von der ihm ungeliebten Verfassung Preußens bei günstiger Gelegenheit entledigen sollten [12].
Am 24. Juni 1888 fand der feierliche Einzug des Kaisers in Berlin statt. Am 25. fand die Eröffnung des Reichstages im Weißen Saal statt. Am 27. gelobte der Kaiser in seiner Thronrede vor dem preußischen Landtag, die preußische Verfassung fest und unverbrüchlich zu halten und gemäß Verfassng und den Gesetzen des Landes zu regieren. Das Schriftstück Friedrich Wilhelm IV. hatte der junge Kaiser kurzerhand verbrannt.
Einen Eid auf die Verfassung des Deutschen Reiches legte Wilhelm II. nicht ab. Der König von Preußen vermied es, jemals zwischen Preußen und dem Deutschen Reich wählen zu müssen [13].
Quellen:
[ 1] Mommsen, Wolfgang, War der Kaiser an allem schuld?, Berlin 2005, S. 14
[ 2] Geschichte Friedrich III. in Der Spiegel 21/67, S. 76
[ 3] Wilhelm II./Thomas R. Ybarra, The Kaiser’s Memoirs: Wilhelm II. Emperor of Germany, 1888-1918, New York, London 1922, S. 21
[ 4] Wilhelm II./Thomas R. Ybarra, a.a.O., S.21
[ 5] Naumann, Friedrich zitiert nach Kohlrausch, Martin (Hg.), Samt und Stahl – Kaiser Wilhelm II. im Urteil seiner Zeitgenossen, Berlin 2006, S. 93
[ 6] Müller, Frank Lorenz, in seiner Rezension von: Winfried Baumgart (Hg.): Kaiser Friedrich III. Tagebücher 1866-1888 auf www.sehepunkte.de, abgerufen am: 12.04.2019
[ 7] Chamier, Daniel, Wilhelm II. – Deutscher Kaiser, München, Berlin 1993, S. 45f
[ 8] Gall, Lothar, Bismarck, Frankfurt/M., Berlin 2008, S. 793
[ 9] Bismarck, Otto von, Gedanken und Erinnerungen, München, Berlin 1982, S. 587
[10] Bismarck, Otto von, a.a.O., S.598ff
[11] Clark, Christopher, Wilhelm II. – Die Herrschaft des letzten deutschen Kaisers, München 2009, S. 54
[12] Chamier, Daniel, a.a.O., S. 47
[13] ebd., S. 46f