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Caprivis Zeitenwende.

Was bleibt ist Helgoland.

Nach Bismarcks Entlassung 1890 mußte ein Kanzler gefunden werden, der den zu erwartenden politischen Stürmen gewachsen war. Diesen Mann hoffte Kaiser Wilhelm II. in General v. Caprivi gefunden zu haben. Dem war nicht so. Carivi vereinbarte mit England die Rückgabe Helgolands im Tausch u.a. gegen Sansibar, was seinen Gegnern als Vorwand diente den neuen Kanzler zu stürzen.

Kaiser Wilhelm II. in seinen Erinnerungen [ 1]:

» Kritik, Kritik und nichts als Kritik war das tägliche Brot, auf das der neue Kanzler rechnen mußte, und die Feindschaft aller derer, die zum Fürsten [Bismarck] hielten, einschließlich der vielen, die sich früher in Opposition gegen ihn nicht genug hatte tun können. [ ... ]
Die Agrarkonservativen machten Front gegen Caprivi als „Mann ohne Ar und Halm“, und ein heftiger Kampft tobte um die Handelsverträge. Diese Schwierigkeitren wurden noch wesentlich dadurch vermehrt, daß Fürst Bismarck, unter Fallenlassen seiner früheren Grundsätze, sich dem Kampf gegen seinen Nachfolger mit der ihm innewohnenden Energie beteiligte. So begann die Fronde der Konservativen gegen Regierung und Krone,.. «

Und das war noch untertrieben. Otto v. Bismarcks Staats­streichpläne waren keine Operettennummer gewesen sondern die Kurzfassung der Politik, die er ohne Putsch nur Schrittweise verfolgen konnte.

Politisch war die Lage 1890 die folgende: Die soziale Lage der Arbeiter war immer noch beklagenswert und wurde spätestens mit Gerhard Hauptmanns „Die Weber“ auch literarsich verarbeitet, womit das Thema Einlaß in die guten Stuben des Bürgertums fand [ 2].

Die Junker wollten Schutzzölle, die Industrie nicht. Die Beziehungen zu Rußland standen auf der Kippe und Bismarcks Zeitenwende (Hinwendung zu den Angelsachsen) erst einmal nicht geglückt. Der Reichstag verweigerte seine Zustimmung zum Wehretat.

Meer und mehr.

Es   »...wurde beschlossen, einen Mann aus der Generation des Fürsten [Bismarck] zu wählen, der während der Kriege eine leitende Stellung bekleidet und bereits ein Staatsamt unter dem Fürsten geführt hatte. So kam Caprivi. Sein Alter verbürgte, daß er einen überlegten und ruhigen Ratgeber für den „verwaisten“ jungen Kaiser abgeben werde [ 3]

So formulierte es der Kaiser in seinen Erinnerungen. Caprivi war nicht unbedingt die Wahl, die Wilhelm II. selbst getroffen haben würde.

Caprivi verlängerte den Rückversicherungs­vertrag mit Rußland nicht. Gegenüber Tirpitz äußerte er [ 4]: »Erst nach Erledigung der völker­psychologischen Not­wendigkeit des Krieges mit Rußland, dem sich Frankreich anschließen wird, dürfen wir an die Schaffung einer starken deutschen Flotte denken.«

Davon abgesehen war Caprivi kein Freund von Kolonien und so wundern wir uns, daß ihm nicht gelang, was Bismarck nicht gelang: ein Bündnis mit England abzuschließen. 1890 besetzte Cecil Rhodes Betschuana- und Matabeleland (Rhodesien bzw. Simbabwe) im Süden von Afrika. Sein Plan war die Schaffung eines zusammenhängenden, britisch beherrschten Gebietes von Kairo bis zum Kap [ 5]. Ein Schritt zur Verwirklichung dieses Planes war der Verzicht Deutschlands auf Sansibar und auf die Ausdehnung seiner ostafrikanischen Kolonie in die von den Kolonialmächten noch nicht aufgeteilten Gebiete.

Die Südafrikanerin Olive Schreiner schrieb im April 1897 an den spätere Premierminister der Kapkolonie John X. Merriman [ 6]:

»Wir bekämpfen Rhodes, weil er so viel Unterdrückung, Ungerechtigkeit und moralischen Verfall für Südafrika bedeutet - aber selbst wenn er morgen sterben würde, bliebe immer noch die schreckliche Tatsache, dass irgendetwas in unserer Gesellschaft die Matrix gebildet hat, die einen solchen Mann ernährt, genährt und aufgebaut hat!«

Caprivi räumte den gut vernetzten, englischen Imperialisten eine der Hürden aus dem Weg und erhielt für die Aufgabe kolonialer Ansprüche in Ostafrika Helgoland. In Deutschland führte dieser Vertrag bei allen, die ihr Geschäft mit, dank und in den Kolonien machten, zu heftige Protesten [ 7].

Einer von ihnen war der Ex-Kanzler Otto v. Bismarck:

»Daß der Helgoland-Vertrag für uns ein Tausch­geschäft ist ähnlich dem Glaucus und Diomedes, ist jetzt das Urteil nicht bloß der Kreise, in welchen das Interesse an überseeischen Erwerbungen vor­herrscht. In der amtlichen Rechtfertigung dieses Geschäftes ist der Ausgleich... in der Pflege unserer Beziehungen zu England gesucht worden. Es ist daher auf die Tatsache Bezug genommen worden, daß auch ich, während ich im Amt gewesen, hohen Wert auf diese Beziehungen gelegt hätte. Das ist ohne Zweifel richtig, aber ich habe an eine Mög­lichkeit einer dauernden Sicherstellung derselben niemals geglaubt und niemals beabsichtigt, Opfer deutschen Besitzes für den Gewinn eines Wohlwollens zu bringen, ... [ 8]«

Der Verzicht auf Sansibar sei ein großer Fehler [ 9]. Die tansanischen Küste bot großen Dampfern keine Möglichkeit anzulegen. Sie landeten deshalb ihre Waren auf Sansibar von dort wurden sie auf kleineren Schiffen in die deutsche Kolonie Ost-Afrika weitertransportiert.

»Durch Handelskreise und die Meldungen der Kom­man­danten der deutschen Kreuzer und Ka­nonenboote,... wußte«   Kaiser Wilhelm II. »...daß mit dem Aufblühen von Tonga, Darres-Salam usw. ... der Wert Zanzibars - als Hauptum­schlags­hafen - dahin sein würde.«

Nicht Sansibar sondern Helgoland sollte neue Handlungs­spielräume schaffen. In den Augen des Kaisers und wohl auch Caprivis stellte im Falle eines Krieges Helgoland in den Hän­den des Gegners eine enorme Bedrohung für die deutsche Nordseeküste dar »und machte jeden Gedanken an einen Flottenausbau un­mög­lich.« [10]

Die Absicht Großbritanniens die Insel nach dem Krieg 1939/45 in die Luft zu sprengen wie auch die weitere Geschichte Sansibars sprechen für den Abschluß des deutsch-englischen Vertrages von 1890.

Es setzte sich nun Dr. Alfred Hugenberg mit dem in der Schweiz lebenden Dr. Adolf Fick, letzterer verschränkt, mit der Deutschen Kolonialgesellschaft und dem Allgemeinen Deutschen Schulverein in Verbindung, um Unterstützer für eine Adresse an den Kolonialpolitiker Carl Peters (Initiator des 1886 gegründeten Allgemeinen deutschen Verbandes zur Förderung überseeischer deutsch-nationaler Interessen) zu gewinnen. Vorschlag des Schreibens: Gründung eines Vereines der dafür sorgen sollte, daß künftig Verträge ähnlich dem Helgolandabkommen verhindert werden. Am 9. April 1891 wurde in Berlin der Allgemeine Deutsche Verband (ADV) gegründet. Der Verband förderte den Imperialismus, Nationalismus und Rassismus inkl. des Antisemetismus und hatte vor 1918 nie mehr als 22 000 Mitglieder [11].

Völkerpsychologische Zeitenwende.

Die Nichtverlängerung des Rückversicherungsvertrages mit Rußland trieben das deutsche Kaiserreich in einen innen- wie außenpolitischen Konflikt den es nicht überleben sollte. Bismarck wußte [12]:

»Auch wenn diese Deckung [durch den Dreibund] nach Festigkeit und Dauer unerschütterlich wäre, hätten wir doch kein Recht und kein Motiv, dem deutschen Volke für englische und österreichische Orient-Interessen die schweren und unfruchtbare Lasten eines russischen Krieges näherzurücken, als sie vermöge eigner deutscher Interessen und derer an der Intergrität uns stehen.»

Der Dreibund für den Caprivi den Rückversicherungsvertrag aufgab, bestand tatsächlich noch nicht und sollte nie zustande kommen, denn als dritten im Bunde erhoffte sich der Kanzler England. Rußland lud 1891 die französische Kriegsmarine nach Kronstadt ein und der Herr aller Reussen, Alexander III., zog den Hut als ihr zu Ehren die "Marseillaise" gespielt wurde [13]. In der Öffentlichkeit führte Caprivi nicht ein geplantes Bündnis mit England sondern den Handelsvertrag mit Österreich an, die freundschaftlichen Beziehungen zu Rußland zu kappen.

Um die deutsch-russischen Beziehungen stand es also schlecht. Sie zu retten erschien Kaiser Wilhelm II. nach seiner Abdankung im Rückblick unmöglich: Der Rückversicherungsvertrag sei verzichtbar gewesen, »da die Russen doch nicht mehr mit dem Herzen dahinter standen.« [14]. Seinerzeit, auf der Kieler Woche 1892,versuchte Wilhelm II. den russischen Kaiser Alexander III. zurückzugewinnen. Alexander zögerte bis 1894 und kam schließlich zu dem Schluß, daß ein deutsch-britisches Bündnis doch zu gefährlich für Rußland sei und schloß mit Frankreich ein Bündnis ab [ 15].

Caprivi stellte den Handelsvertrag mit Österreich über die sicherheitspolitischen Interessen aber auch die Profite der Industrie (niedrige Zölle) über die Profite der Junker und Großgrundbesitzer (Schutzzölle). Schlußendlich versuchte Caprivi die Sypathien der Polen zu gewinnen, um sie dereinst gegen die Russen ins Feld zu schicken.

Ostpreußen.

Caprivi war nicht nur Reichskanzler sondern auch Präsident des preußischen Staatsministeriums (Regierungschef in Preußen). Um sich die Unterstützung der (katholischen) Zentrumspartei zu verdienen wurde in Preußen durch Kultusminister Graf Zedlitz-Trützschler ein neues Volksschulgesetz ausgearbeitet, das dem Klerus, der Kirche weitreichenden Einfluß in den Volksschulen Preußens garantieren sollte.

Ein Sturm der Entrüstung brach los [16] [17]. Von links bis rechts inklusive einzelner katholischer Theologen, brach der Unmut lautstark hervor und Kaiser Wilhelm II. rettete mit einem Eklat die preußische Bildungsfreiheit . Am 17. März 1892 forderte Wilhelm II. das neue Schulgesetz nicht gegen die Mittelparteien durchzubringen - und die Mittelparteien lehnten das Schulgesetz ab, was der Kaiser bzw. König von Preußen wußte.

Am 17. März 1892 reichte der Kultusminister v. Zedlitz sein Rücktrittsgesuch ein, dem umgehend stattgegeben wurde. Am 18. März bat Caprivi um Entlassung, mangels eines qualifizierten Kandidaten behielt er seine Ämter in der Regierung des Deutschen Reiches, räumte aber seinen Posten als Präsident des preußischen Staatsministeriums zugunsten des Grafen Botho zu Eulenburg [18][19].

Die Kernschmelze in Ostpreußen drohte am 10. Februar 1894 nach Unterzeihnung des Handelsabkommens mit Rußland, dem größten Getreideexporteur. Die Junker radikalisierten sich. Rassisten und Antisemiten traten auf den Plan, die Menschen gegeneinander aufzuhetzen. Jüdische Händler und Kaufleute, bei vielen von ihnen handelte es sich um Russen, spielten im Getreidehandel eine wichtige Rolle. Und so kam es zum „Antrags der Abgeordneten Freiherr von Hammer­stein und Freiherr von Manteuffel auf Vorlegung eines Gesetzentwurfs, nach welchem Israeliten, die nicht Reichs­angehörige sind, die Einwanderung über die Grenzen des Reichs untersagt wird zum von den Abgeordneten Liebermann von Sonnenberg, Zimmermann und Genossen eingebrachten Gesetzentwurfs betreffend die Einwanderung ausländischer Juden.“ Antrag und Gesetzesvorlage wurden natürlich eine Abfuhr erteilt, doch die Hetze sollte weitergehen, wie der Abgeordnete Rickert feststellte [20]:

Meine Herren, daß der Antrag eine prinzipielle und antisemitische Bedeutung hat, darüber haben die Herren An­tragsteller gar keinen Zweifel gelassen. Er soll der Anfang der gesetzgeberischen anti­semitischen Agitation sein. Wir wissen ja jetzt von den Herren des Bundes der Landwirthe, daß die Judenfrage auch in die Agrarfrage Hineinspiele. — Herr von ( Ploetz nickt mir zu: ich danke ihm für diese Bestätigung. Der ; Bund der Landwirthe ist eine anti­semitische Organisation geworden. (Sehr gut! rechts.)
— Sehr gut, sagen Sie ja wohl: sehr gegen den Geist der Zeit. Das ist richtig, wie Sie ja auch im übrigen mit Ihren Monopolen, so auch in dieser Beziehung gegen die Kultur­fortschritte, welche die zivilisirte Welt in den letzten Jahrhunderten gemacht, kämpfen.

Am 6. September 1894 lud Wilhelm II. zu einem Festmahl in Königsberg und versuchte die Wogen zu glätten und den Adel an seine (historische) Verpflichtung gegenüber dem König zu erinnern.

Auch das war Anlaß den Kaiser weiter zu demontieren. Am 23. September 1894 empfing Bismarck eine Abordnung von nationalen Deutschen aus Posen und Westpreußen, um sie auf den Kampf gegen die polnische Minderheiten ein­zu­schwören, was ihm die Ehrenmitgliedschaft im Alldeutschen Verein (ADV), verliehen anläßlich seines 80. Geburtstages 1895, eintrug [21]. So scharte sich denn der Adel des Ostens weniger um den Kaiser als um die prefaschistischen Demagogen des Alldeutschen Vereines dessen Hauptfinanzier damals Alfred Hugenberg war, der Hugenberg der am 11. Oktober 1931 in Bad Harzburg eine Nationale Opposition einschließlich der Hitlerfaschisten (die Harzburger Front) organisieren wollte [22].

Und so warnte Bismarck vor Kaiser Wilhelm II. der nicht davor zurückschrecken werde, die Sozialisten an die Macht zu bringen, wortlich [23]: »Die Drohung, daß er [Kaiser Wilhelm II.], wenn ihm nicht unbedingt gehorcht werde, sich weiter nach links wenden werde, daß er die Sozialisten, die Kryptorepublikaner der freisinnigen Partei, die ultramontanen Kräfte an das Ruder bringen könne,... schüchtert die hergebrachten Stützen der monarchischen Gewalt ein.«

Wilhelm II. hatte am 4. Februar 1890 einen Erlass „zur Verbesserung der Lage der Arbeiterschaft“ ankündigte. Er beabsichtigte Gewerbegerichte einrichten zu lassen, in denen auch die von Arbeitern gewählten Vertreter mitwirken sollten. Weitere sozialpolitische Gesetze (Arbeitsschutzgesetz im Rahmen einer neuen Gewerbe­ordnung 1891) sollten verabschiedet werden. Die Erneuerung der Sozialisten­gesetzes widersprach jedoch dem Politikverständnis des Kaisers [24].

Revolutions-Hysterie als Mittel zum Zweck.

Bei den Reichstagswahlen 1893 erhielt die SPD 360 000 Stimmen mehr als bei den Wahlen zuvor und gewannen damit einen Stimmen­anteil von 23 Prozent. 1893/94 versetzten eine Reihe von Anarchisten Europa in Unruhe. 1894 wurde der Präsident von Frankreich, Marie François Sadi Carnot ermordet. Frankreich und Italien erließen Ausnahme­gesetze. Und was Frankreich hat, das mußte auch Deutschland haben, so die deutschen Einpeitscher [25] [26]. Durch das Schüren von Hysterie hatte schon Metternich 1819 einen fortschrittlichen, gesellschaftlichen Wandel verhindert. 1819 wie 1864 war die Gefahr, daß Deutschland in Anarchie verfiele gleich null.

Als der Kaiser von dem einen oder anderen Adjudanten begleitet, wie so oft, den überfüllten Potsdamer Markplatz überquerte, über schmutzigen Kopfstein, Rinnstein und zurück, stampfte er auf einen Straßengully. Bigelow der ihn begleitete begriff und sagte: der Zar würde wahrscheinlich eine Bombe darunter vermuten [27].

Das Geschrei nach einem deutschen Ausnahmegesetz war allerdings zu groß um es zu ignorieren und so wollte Caprivi, daß Eulenburg in Preußen ein Aufstands­gesetz verabschieden lassen sollte. Der politische Rivale Eulenburg sollte sich die Hände schmutzig machen, was dem widerstrebte. All so sorgte der Kaiser für einen Eklat: Er telegrafierte aus Sachsen Caprivi, daß der König die Vorlage des Gesetzes beim Reichstag unterstütze. Was Caprivi nicht wollte. Er drohte mit Rücktritt einigte sich dann mit dem Kaiser darauf, zu bleiben, wenn er das Gesetz nach eigenem Gutdünken abfassen dürfe. Wilhelm II. bat Eulenburg, als Führer der Kon­ser­vativen, Caprivis Gesetzesvorlage zu unterstützen. Was dieser Versprach aber faktisch nicht tat [28].

Von ihren Unterstützern gegeneinander aufgehetzt gruben sich so Caprivi und Eulenburg selbst ihre Gräber. Sie erhielten ihren Rücktritt. Schuld schreibt die SPD sei der Kaiser, der da einmal - nach einer politischen Äußerung, die zu machen ihm das Recht abgesprochen wurde - sagte, seinen Mund nur noch zum Essen, Trinken und Rauchen verwenden zu wollen [29], sich im weiteren aber nicht daran hielt.

Und die Gegner des Kaisers instrumentalisierten auch seine Bemerkung infolge der Ablehnung des Aufstandsgesetzes »uns bleiben ja immer noch Feuerspritzenn und Kanonen einen Aufstand niederzuschlagen« - womit er sagen wollte, daß man sich das ganze Theater hätte ersparen können.

Ein vernünftiger Ansatz zur Konfliktbereinigung.

Der Handelsvertrag mit Österreich und daraufhin folgend mit anderen Staaten reduzierte die Zölle für Agrarprodukte um 30%, d.h. die deutschen Getreideproduzenten die 90% des Marktes kontrollierten, verloren Geld. Die Arbeiter mußten immer mehr Geld für Nahrungsmittel aufbringen. Die landwirtschaftlichen Höfe waren verschuldet und die Steuereinnahmen Preußens stagnierten [30].

Preußens Wirtschaft hatte sich gewandelt, die Landwirtschaft verlor, Industrie, Dienstleistungen und Handel gewannen an Bedeutung und dort war auch das Geld zu holen. Der preußische Finanzminister Johannes v. Miquel erarbeitete eine Steuerreform, die die Landwirtschaft und die Gering­verdiener entlastete, die Bezieher höherer Einkommen aber zur Kasse bat, konkret weniger indirekte Steuern mehr direkte Steuern, d.h. Personalsteuern wobei die Ertrags­steuer (Gewerbe- Grund- Gebäudesteuer) von geringem Gewicht war.

Einkommen bis 900 Mark, Betriebe mit Einnahmen kleiner 1500 Mark und Unternehmen mit einem Betriebskapital bis 3000 Mark waren von der Steuer befreit. Im Ergebnis: Weniger Steuerpflichtige, weniger Verwaltung und um 50% gestiegene Steuereinnahmen [31].

HINWEIS
zu Glaucus und Diomedes: Der von Zeus verblendete Glaucos tauschte seine goldene Rüstung gegen die gewöhnliche des Diomedes ein.

Anmerkungen:

Bismarck hatte mithilfe der Mehrheit im preußischen Abgeordnetenhaus von Konservativen und Nationalliberalen die Stellung des polnischen Adels u.a. durch das Ansiedlungsgesetz von 1886 geschwächt [32]. Der polnische Adel hatte großteils während des Kulturkampfes mit der katholischen Kirche zusammen­gespannt, die sich u.a. angemaßt hatte, den Lehrplan an den preußischen Schulen zu bestimmen.

Caprivis Volksschulgesetz sah vor, den Kirchen, d.h. auch der katholischen Kirche wieder einen größeren Einfluß an den Volsschulen einzuräumen. Die Berufung eines Polen (Stablewski) zum Erzbischof von Gnesen und Posen, dessen Einführung der polnische Adel zum Protest gegen Preußen diente, ließ alles andere als eine friedliche Zukunft erwarten. Erinnerungen an den posener Erzbischof Ledochowsky wurden wach, der 1873 von Papst zum Primas von Polen, d.h. zum Stellvertreter eines polnischen Königs, ernannt worden war [33].

Das mußte jeden beunruhigen und die Senkung der Zölle auf land­wirt­schaftliche Erzeugnisse wie den damit ein­her­gehenden Preisverfall veranlaßten ostelbischen Junker auf der Basis eines ungesunden Nationalismus einen Ausgleich mit den Kohle- und Stahlbaronen zu suchen.

Hinsichtlich des von Caprivi (Reichskanzler und General) erwarteten völker­psycho­logisch unab­wendbaren Krieges gegen Rußland paßten die Berufung des Erz­bischofs Stablewski und das Umgarnen der Polen ins Bild. Bismarck schrieb das Folgende nicht von ungefähr [34]:

Caprivi hat unser Verhältnis zu Rußland gerade an der Stelle vergiftet, wo Rußland am allerempfindlichsten ist: in der Polenfrage. Die Besetzung des Gnesener Bischofs­stuhls mit einem Nationalpolen war nicht nur ein Irrtum unserer inneren, sie war vor allem ein Fehler unserer auswärtigen Politik und ein voll­wichtiger Beweis, daß Herr von Caprivi seinem schwierigen Amte nicht gewachsen ist.

Quellen:

[ 1] Wilhelm II., Ereignisse und Gestalten 1878-1918, Reprint der Orginalausgabe von 1922, Wolfenbüttel 2012, S. 44f
[ 2] Engelberg, Ernst, Deutschland von 1871 bis 1897, Berlin 1965, S. 273
[ 3] Wilhelm II., a.a.O., S. 45
[ 4] Tirpitz, Alfred von, Erinnerungen, Leipzig 1919, S. 25
[ 5] Meyer, Eduard, England, Stuttgart, Berlin 1915, S. 138f
[ 6] www.oxfordandcolonialism.web.ox.ac.uk/article/falling-statues-and-morality-cecil-rhodes-cant-be-rescued-history, Stand: 25.05.2023
[ 7] Blum, Hans, Das Deutsche Reich zur Zeit Bismarcks, Leipzig, Wien 1893, S. 677f
[ 8] Bismarck, Otto von, Gedanken und Erinnerungen, München, Berlin 1982, S. 605
[ 9] ebd. S. 607
[10] Wilhelm II., a.a.O., S. 46
[11] Autorenkollektiv, Die bürgerlichen Parteien in Deutschland, Bd. 1, Leipzig 1968, S. 1ff
[12] Bismarck, a.a.O., S. 606f
[13] Egelhaaf, Gottlieb, Geschichte der neuesten Zeit, Stuttgart, 1913, S. 268
[14] Wilhelm II., a.a.O., S. 45
[15] Montefiore, Simon Sebag, Die Romanows, Frankfurt/Main 2016, S. 669
[16] Engelberg, Ernst, a.a.O., S. 331
[17] Blum, Hans, a.a.O., S. 693
[18] ebd., S. 694
[19] Engelberg, Ernst, a.a.O., S. 333
[20] Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstages. IX. Legislaturperiode. III. Session. 1894/95 Bnd.: 139. 1894/95 Berlin 1895, S. 1281
[21] Hertz-Eichenrode, Dieter, Deutsche Geschichte 1871 - 1890, Stuttgart, Berlin, Köln 1992, S.48
[22] www.dhm.de/lemo/biografie/alfred-hugenberg, Stand: 12.05.2023
[23] Bismarck, Otto von, a.a.O., S. 595
[24] Kellermann, Katharina auf www.katharinakellmann-historikerin.de/leo-von-caprivi-und-der-neue-kurs, Stand: 11.05.2023
[25] Chamier, Daniel, Wilhelm II. - Der Deutsche Kaiser, München, Berlin 1993, S. 110
[26] Clark, Christopher, Wilhelm II., München 2008, S. 102
[27] Chamier, Daniel, a.a.o., S. 110
[28] ebd. S. 111ff
[29] ebd. S. 109
[30] Engelberg, Ernst, a.a.O., S. 326ff
[31] ebd, S. 321f
[32] Egelhaaf, Gottlieb, a.a.O., S. 214
[33] Robolsky, Herrmann, Geschichte des Kulturkampfes, Leipzig 1885, S. 80
[34] Blum, Hans, a.a.O., S. 695

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